Anstatt das Verhalten zu reflektieren, zu ändern oder nach Fehlern zu suchen und diese zu beheben, wird bis heute ein Schuldiger gesucht: Deutschland ist immer das Opfer!
Wer sich nicht brav in das Kollektiv “einreiht” und funktioniert hat ein Problem. Wer nicht für die “Windmühlen” ist, der ist ein Feind.
Was muss Deutschland endlich lernen, um ernst genommen zu werden?
Wir führten mit dem amerikanischen Journalisten und Autor Eric T. Hansen ein Interview.
Eric T. Hansen ist in Hawaii geboren und lebt seit über 20 Jahren in Deutschland.
Hounds & People: Hi, Eric! Was hat sich seit dem Sie in Deutschland leben verändert?
Eric Hansen: Hi, Astrid! Ein merkwürdiger Wandel hat sich vollzogen, der für mich als Amerikaner widersprüchlich ist, aber für Deutschland normal zu sein scheint. Einerseits, ist der Nationalismus und der Anti-Amerikanismus scharf angestiegen: Es ist jetzt nicht nur salonfähig, bizarre Vorurteile über Amerika zu verbreiten, man wird oft schief angeschaut, wenn man es nicht tut.
Der Nationalismus war mal bei den extremen Rechten angesiedelt, heute ist er überall zu finden, auch bei den Linken, in Form der Angst vor der EU und vor internationaler Kooperation: Die Deutschen sehen sich in ihrer Identität wieder angegriffen und reagieren wie sie immer reagiert haben, mit einer paranoiden Barrikadenmentalität, voller Angst und Ressentiments.
Gleichzeitig ist Deutschland internationaler denn je. Die Deutschen als ein traditionelles Exportland waren immer ein sehr internationales Volk (schon im Mittelalter haben sie zum Beispiel ihre Kultur hauptsächlich aus dem Ausland importiert, genauso wie sie ihre Popkultur heute aus Amerika importieren). Heute sprechen die Deutschen mehr Englisch als je zuvor, sind bereister als je zuvor und sind ökonomisch vom Ausland – vor allem von Europa und Amerika – abhängiger als je zuvor.
Das ist für mich ein Widerspruch: Wer vom Ausland so sehr profitiert wie die Deutschen, sollten sich dort zuhause fühlen. Das Gegenteil ist der Fall: Die Deutschen werden gegenüber dem Ausland immer paranoider.
Das beste Beispiel ist der TTIP: Die Berichterstattung darüber ist voller panischen Warnungen (die sich regelmäßig dann als Irrtümern herausstellen), das Deutschland amerikanisiert wird. Immer wieder geht es dabei nicht um die reale Wirtschaft, sondern um die offenbar sehr fragile deutsche Identität: „Wenn wir Nürnberger Würstchen aus Kentucky essen, sind wir keine Deutschen mehr!“
Doch der Export beträgt nur 10% der amerikanischen Wirtschaft, in Deutschland beträgt dieser 30% – also ist es umgekehrt der Fall, Amerika wird eher von deutschen Produkten überschwemmt. Wie übrigens schon jetzt: Für jede amerikanische Firma auf deutschem Boden gibt es 2 bis 3 deutsche Firmen auf amerikanischem Boden.
Die TTIP bedeutet für Deutschland nur, dass die Deutschen noch mehr Dollars aus Amerika in die eigene Tasche stecken werden, als je zuvor – und wenn wir ehrlich sind, ist der Wohlstand der wichtigste Teil der deutschen Identität überhaupt.
Hounds & People: Sind die Unterschiede zwischen Deutschland und den USA kleiner geworden?
Eric Hansen: Eher grösser. Die Konsenskultur in Deutschland wächst zum Beispiel ins Bedrohliche. Durch die Große Koalition gibt es in Deutschland keine nennenswerte Opposition mehr. Die Linken und die Grünen können sich durch Protest profilieren, aber an der Regierung können sie kaum noch mitarbeiten. Die Große Koalition finde ich vernünftig, aber auf Dauer ist eine Einheitspartei immer schlecht für die Demokratie.
In Amerika ist die Opposition sehr stark, vielleicht bedrohlich stark: Man klagt ja darüber, dass die Partien sich gegenseitig blockieren. Das ist teilweise richtig so – die Opposition soll ja eine Korrektur der Mehrheitspartei sein. Aber auch das kann schlecht sein, wenn es ins Extreme übertrieben wird.
Auch die fiskalische Politik in Deutschland ist deutlich konservativer als in Amerika. Während in Amerika die radikale Sparpolitik der Tea Party abgewendet wurde, wird sie durch den Einfluss Deutschlands in der EU angewandt – mit verheerenden Folgen für einige nicht-deutsche EU-Staaten.
Es gibt auch eine gefährliche Selbstzufriedenheit in Deutschland, die man in Amerika nicht hat. Während die amerikanische Politik ein immerwährender Kampf um die Gestaltung der Gesellschaft ist, haben sich viele Deutschen entschieden, dass sich nichts ändern soll. Der Anti-Amerikanismus ist auch ein Teil davon: Man malt Amerika so schwarz wie möglich, damit man das eigene Land nicht in Frage stellen muss. Diese Selbstzufriedenheit bedeutet aber auch Stagnation: Deutschland hinkt (wieder) hinterher.
Hounds & People: Sie leben seit über 20 Jahren in Deutschland. Was vermissen Sie in Deutschland?
Eric Hansen: Die Selbstkritik. Die Deutschen kritisieren sehr gern, aber sie tun dies in traditionellen Bahnen: Bild Zeitung, die vermeintliche Kommerzialisierung des Fernsehens, die NPD und die Rechten, auch die jeweils andere Partei, das sind die traditionellen Bereiche, in denen der Deutsche Kritik übt. Was er nicht tun darf, ist die eigene Gesellschaft, die eigene Lebensart in Frage zu stellen.
Die Pegida-Bewegung hat den alten Begriff „Lügenpresse“ wieder aufgebracht – kann es sein, dass das sogar berechtigt ist? Die Groko bedeutet, dass es keine Opposition gibt – kann es sein, dass Deutschland wieder auf eine Art Einheitspartei zusteuert? Oder neulich, das Massaker bei Charlie Hebdo: Warum gibt es solche radikale Zeitschriften nicht in Deutschland? Kann es sein, dass die deutschen Zensurgesetze überaltert sind? Kann es sein, dass die politische Korrektheit den deutschen Mainstream davon abhält, gewisse Gedanken zu denken?
Hounds & People: Die USA haben fast 250 Jahre Demokratie und eine der längsten direkten Demokratien der Welt, wodurch die Bürger direktes Mitbestimmungsrecht haben. Fehlt ihnen dies?
Eric Hansen: Die Demokratie in Deutschland ist sehr jung, und die Mentalität des Volkes sowie viele Organe des Staates sind noch vom Obrigkeitsdenken des Kaiserreichs und des Feudalismus geprägt. Das ist auch der Grund, warum niemand die Groko – eine Einheitspartei mit beinahe absoluter Entscheidungsfreiheit – merkwürdig findet. Im Gegenteil, je mehr Verantwortung der Staat trägt, desto besser.
Dieser Obrigkeitsglaube hat den Vorteil, dass das Land ruhig und vernünftig bleibt. Doch machen mich Dinge wie die Homo-Ehe doch stutzig. In Amerika hat die Schwulengemeinde solange protestiert, und tut es noch, bis ein Bundesstaat nach dem anderen gezwungen war, die Homo-Ehe einzuführen.
In Deutschland hat der Bundestag kurz darüber beraten, den Rat der Kirchen eingeholt und sich dagegen entschieden. Gab es Proteste seitens der Schwulengemeinde? Nein. Die Entscheidung der Obrigkeit wurde akzeptiert. Das bedeutet einerseits Ruhe und Ordnung, andererseits zeigt es, dass die Deutschen eine eher kaiserliche Auffassung von Demokratie haben.
Hounds & People: Die Amerikaner lösen ihre Probleme selbst. Sie warten nicht darauf, dass dies jemand oder der Staat für sie tut. Sie starten Projekte, Umweltprojekte oder Projekte in der Biolandwirtschaft seit über 20 Jahren z.B. in Kalifornien oder die urbane Landwirtschaft – wie gerade in New York. Um ein Gegengewicht zur Industrie herzustellen. Damit sich etwas verändert, unterstützen und investieren viele wohlhabende Amerikaner und Bürger in diese Projekte.
Haben die Deutschen eine falsche Vorstellung von Demokratie oder wurde ihnen diese vielleicht nie vermittelt? Trotz der Bemühungen der Amerikaner und Engländer nach dem zweiten Weltkrieg?
Eric Hansen: Man unterschätzt wie radikal der Bruch mit Europa und dem feudalen System 1776 war: Auch wir Amis vergessen, wie anders dieser Bruch uns gemacht hat. Mit der Revolution haben wir nicht nur den Adel, sondern auch jedes Obrigkeitsdenken abgelehnt. Das wurde auch in der Kolonisierung ohne nennenswerte Hilfe aus der Heimat und im Wilden Westen noch mal praktisch umgesetzt: Die Eigenständigkeit, auch die Unabhängigkeit vom Staat und von der Obrigkeit ist ein intimer Teil des amerikanischen Lebens.
In Deutschland und in ganz Europa ist das anders: Das Obrigkeitsdenken ist hier seit dem Mittelalter tief verwurzelt. Im Mittelalter wie heute trug der Einzelne nur begrenzt die Verantwortung für sich selbst. In schlechten Zeiten musste der Fürst für das Wohl der Bauern sorgen, wie heute das europäische Sozialsystem für den Einzelnen sorgen soll. Dafür hatte der Einzelne damals kaum Entscheidungsgewalt im eigenen Leben – nicht mal den Beruf dürfte er im Regelfall selber aussuchen. Heute hat der Einzelne viel mehr Rechte, aber es wird immer noch vom Staat erwartet, dass er alles regelt.
Ich hatte mal ein aufschlussreiches Gespräch mit einem jungen linken Radikalen. Er meinte, die Kirchen seien doch Schuld an der Misere der Welt und an den Kriegen. Deshalb müssten die Kirchen abgeschafft werden. Die moralische Erziehung der Bürger würde der Staat übernehmen. Es war merkwürdig, und ich glaube nicht, dass er verstand, wie obrigkeitsgläubig er war: Er wollte dem Staat noch mehr Macht geben, als er schon hatte, und ein mögliches Gegengewicht zum Staat, die Kirche, abschaffen. Er hatte unbedingtes Vertrauen in den Staat, dass er alles richtig machen würde, was die Kirche vermasselt. Die gleiche Einstellung findet man im Kommunismus (der in Wahrheit eine Art Neo-Feudalismus ist): Der Staat soll keine Gegenspieler haben, der Staat macht dann alles richtig.
Auch die Angst vor dem Kapitalismus und dem Lobbyismus ist eine Art Obrigkeitshörigkeit: Immer, wenn ein Politiker eine Entscheidung fällt, die man nicht mag, sagt man: Es ist der Einfluss von Big Business. Wenn der Staat ganz allein ohne Einfluss von außen alle Entscheidungen treffen würde, wäre alles in Ordnung. Das ist ein ungeheures Vertrauen in den Staat. In Wahrheit gibt es keinen Grund zu glauben, dass die Politiker klüger oder moralischer sind, als die Kirche oder eine große Firma.
Alle Kriege in Deutschland seit dem 30-jährigen Krieg wurden nicht von den Kirchen, sondern vom Staat verursacht. Gerade nach den 1. und 2. Weltkriegen müssten die Deutschen eigentlich anstreben, dass der Staat weniger Verantwortung hat und mehr Gegengewicht aus anderen Ecken bekommt, aber der Instinkt des mittelalterlichen Feudalmenschen, dem Staat in allem zu trauen, bleibt.
Hounds & People: Amerikaner sind sehr tolerant, freundlich, hilfsbereit und gastfreundlich. Vermissen sie dies in Deutschland?
Eric Hansen: Ich muss sagen, es ist besser geworden. Das Dienstleistungssektor hat erkannt, dass ein Kunde im Laden nicht nur ein Produkt, sondern auch eine Einstellung kaufen will, das Gefühl, willkommen zu sein. Seit der Fußballweltmeisterschaft 2006 hat sich auch einiges geändert, viele Deutschen erlauben sich, freundlicher zu sein.
In Deutschland schätzt man traditionell die “tiefe”, “echte” Ernsthaftigkeit – was in der Praxis meist nur als eine grundsätzliche negative, nörgelige Einstellung umgesetzt wird – aber immer mehr Leute sagen, muss das sein? Macht diese besserwisserische, griesgrämige Einstellung unser Leben wirklich besser? Nicht viele Leute, aber immer mehr.
Vielleicht gibt es eine langsame Entwicklung, wie das Rauchen bzw. das Rauchverbot: Als ich in den 80ern hierher kam, machten sich die Deutschen lustig über die amerikanische Anti-Raucher-Kampagne. Das Rauchen war noch ein Zeichen der Intellektuellen, etc. (eine schon damals veraltete Tradition aus dem frühen 20. Jht., aber die Deutschen lieben ihre Traditionen!) Heute ist es ganz normal, zu hören, „Gott sei dank ist das keine Raucherkneipe.“ Auch die Deutschen ändern sich, wenn auch meist langsamer als die anderen.
Hounds & People: Die Amerikaner sind allerdings tolerant wenn in einem Restaurant in New York oder Kalifornien jemand nach dem Essen eine Zigarre raucht. Niemand wird ihn dort deshalb denunzieren. In Deutschland ist es inzwischen wieder ein Volkssport andere zu kontrollieren, öffentlich zu maßregeln und zu denunzieren. Dies wäre in den USA undenkbar. Stört Sie dies nicht?
Eric Hansen: Es stimmt schon, dass in Deutschland eine menge soziale Kontrolle herrscht. Es gibt einen starken, unterschwelligen Drang, alles anzupassen, damit niemand aus der Reihe fällt. Zu den Lieblingssätzen der Deutschen gehören: “So geht das nicht” und “So macht man das aber nicht.”
In der Wirtschaft, in der Literatur, im Journalismus, in der Politik achtet man darauf, dass alles so gemacht wird, wie es “richtig” ist – also, wie es immer gemacht wurde. Deshalb ist ein Mad Men oder Breaking Bad in Deutschland nicht möglich – die Fernsehredakteure würden es nicht als “richtig” akzeptieren, weil es anders ist, als sie es gelernt haben.
In politischen Diskussionen ist es schwierig, die eigene Partei oder die eigene Linie in Frage zu stellen, man wird sofort in der gegensätzliche Ecke gesteckt. Die linke Idee ist längst veraltet und überholt und braucht dringend Erneuerung, aber wer das sagt, wird als rechter Spinner, also als Gegner, abgestempelt: Man muss linientreu bleiben, wenn man respektiert sein will.
Ich will aber meine Landsleute nicht aus der Pflicht entlassen: Wir kontrollieren auch eine Menge, gerade in Zeiten des Internets. Wer einen dummen Witz macht, der ein wenig politisch inkorrekt ist, kann sein Job und sein Leben verlieren, wenn er sich in die falsche Ecke im Netz verirrt. Es dreht sich meist um „Sozialpolitik“, das heißt Moralpolitik, und diese kommt aus einer starken moralischen Überzeugung: Feminismus, die Gleichstellung von sexuellen Andersartigen, die anti-rassistische Bewegung schlägt gern mal über die Strenge und mäht alles nieder, was ihm im Wege steht.
Das ist in Amerika eine lange Tradition: Die Puritaner von damals duldeten keine andere Meinung und sahen auch ihr Heil in einer moralisch uniformen Gesellschaft. Es gilt, den ganzen Staat moralisch einwandfrei zu machen, damit Gott ihn auch annimmt. Das wirkte in der Prohibition weiter und wirkt heute wieder weiter in den „social political“ Themen – und erzeugt auch in Amerika durchaus eine starke bigotte Intoleranz gegen Menschen, von denen man ahnt, sie glauben nicht das richtige.
Hounds & People: Hier in Deutschland gibt es inzwischen jede Menge Vorurteile gegen die USA. Woher kommen diese?
Eric Hansen: 70 Jahre nach Kriegsende, 26 Jahre nach Mauerfall und 23 Jahre nach Abzug der Alliierten, suchen die Deutschen eine neue Identität. Die Schande und Scham des Krieges sind vorbei, Deutschland ist eine Weltmacht und der führende Staat in der EU. Das ist ganz anders als vor 1992: Damals war Deutschland als besetztes Land sozusagen ein Kind, jetzt ist es erwachsen und muss in der erwachsenen Welt zurecht kommen, neue Aufgaben kennen lernen, Selbstbewusstsein lernen, etc. All das ist nicht leicht.
Wir wissen das aus der eigenen Pubertät. Wir wissen aber auch aus der eigenen Pubertät, was wir als erstes machen, wenn wir von zuhause wegziehen: Wir stellen Mama und Papa in Frage. Wir verwerfen alles, was wir zuhause gelernt haben, wir rebellieren, wir sehen endlich, was für Heuchler unsere Eltern sind, lauter Kapitalisten und angepasste Spießer, etc.
Das ist die Phase, in der sich Deutschland in Bezug auf die USA befindet: Die übertriebene, zum Teil gelogene Berichterstattung über Amerika, der gezielte Aufbau eines amerikanischen Feindbild, das ist die deutsche Art, sich von den früheren Alliierten, die von Amerika verkörpert werden, zu Verselbstständigen. Es ist schade, dass die Deutschen die Selbstständigkeit nicht ohne Feindbilder und Vorurteile erreichen können, und ich hoffe, sie werden eines Tages wieder zu den intellektuellen und kulturellen Menschen, die sie schon waren, und die man respektieren kann, aber im Moment ist es wichtiger, eine neue Identität zu finden.
Hounds & People: Stimmt! Vor allem die so genannte linksliberale Presse begann mit der Schaffung von Feindbildern und der Hetzte gegen die USA. Hinzu kommt, dass die wenigsten deutschen Journalisten die sich daran beteiligten die USA kennen, wie auch der grösste Teil der deutschen Bevölkerung. In den USA wäre ein solches Verhalten der Presse undenkbar. Ist der Grund hierfür der Zusatzartikel 1 der amerikanischen Verfassung, nachdem die Meinungsfreiheit zwar unantastbar ist, aber die Presse wegen Verleumdung verklagt werden kann und deshalb darauf achtet wahrheitsgemäß zu berichten?
Eric Hansen: Es gibt natürlich eine Menge schlechte Presse in den USA, aber das Ideal liegt bei The New York Times, die immerhin versucht, unparteiisch und sachlich zu bleiben. Das deutsche Ideal, das vom Spiegel verkörpert wird, geht von einem pseudo-investigativen Journalismus aus, der erst erfolgreich ist, wenn ein Skandal aufgedeckt wird. Also muss alles unbedingt als ein Skandal interpretiert werden: der Journalist muss die Nachricht gleich interpretieren. Er sagt dem Leser schon in der Schlagzeile und in den ersten Sätzen, was der Leser zu denken hat.
Als die deutsche Presse über die Unruhen von Ferguson schrieb, hieß es immer wieder sofort „amerikanischer Rassismus.“ Das ist eine Interpretation und eine moralische Beurteilung (und auch inhaltlich fraglich). Als die New York Times über die Pegida-Demos schrieb, bei der man tatsächlich von Rassismus reden kann, wurde das Wort Rassismus nicht verwendet; man sprach von dem „Ringen nach einer nationalen Identität“. Das ist der Unterschied zwischen deutschen und amerikanischen Journalismus.
Hounds & People: Welche deutsche Identität und aus welcher Zeit? War es in Deutschland aber nicht schon immer so, dass man ein Feindbild benötigte um eigenes Verhalten nicht reflektieren und ändern zu müssen? Lernen setzt ja voraus, Fehler zu erkennen und diese nicht zu wiederholen, sondern andere Lösungen zu finden und diese anschließend als Know How abzuspeichern. Das können sogar höher entwickelte intelligente Säugetiere. Blockieren sich die Deutschen durch diese fehlenden, kognitiven und sozialen Fähigkeiten nicht vielmehr selbst und verhindern hiermit ihre Weiterentwicklung?
Eric Hansen: Die Suche nach einem Feindbild – auch die Suche nach einem Schuldigen – ist seit dem 18. Jahrhundert die Grundlage der deutsche Identität. Die Geschichte von Hermann dem Cherusker legt schon die Grundlage: eine große Übermacht aus dem Ausland überfremdet die kleinen, hilflosen aber moralisch überlegenen Deutschen. Natürlich hindert diese Sichtweise auf die Welt die Deutschen daran, die Welt zu sehen, wie sie ist. Um dieses Bild aufrecht zu halten, braucht man grundsätzlich immer ein Feindbild, nur so geht es überhaupt. Jede Neuerung wird durch die Brille gesehen: Privatfernsehen, Kabelfernsehen, der Walkman, der iPod, das iPhone, das Internet, alles verbirgt eine schrecklich Gefahr. In Wahrheit verbirgt dies großartige Möglichkeiten, wie die Wirtschaft zu fördern, das tägliche Leben zu verbessern, die Kultur zu modernisieren und sogar die Politik besser zu betreiben.
Aber die Deutschen haben den Drang, sich als Opfer zu sehen, und so interpretieren sie erstmal alles als Gefahr, und verpassen die Gelegenheit, die ihnen geboten wurde. Bestes Beispiel: Das MP3-Format wurde in Deutschland entwickelt, aber erst Apple kam auf die Idee, daraus iTunes und den iPod zu machen. Stellen Sie sich vor, Deutschland hätte Apple gehabt! Die Möglichkeiten hatten sie ja: Bertelsmann und Siemens hatten jeweils die nötige Technik und auch den Inhalt. Aber nein, es musste erst mal lang und breit über die Gefahren des Internets diskutiert werden.
Heute steht Deutschland ganz oben auf der Liste der reichsten, privilegiertesten und fortschrittlichsten Ländern der Welt. Alle Türen in allen Bereichen stehen Deutschland offen. Aber man kann sich darauf verlassen, dass die wenigsten Deutschen durch die Tür treten werden. Statt dessen wird heftig darüber diskutiert, was für Monster auf der anderen Seite der Tür lauern, die es auf Deutschland abgesehen haben.
Hounds & People: Wäre es nicht eine viel bessere Alternative, wenn die Deutschen damit beginnen würden tolerante, menschliche und selbstbestimmte Europäer zu werden?
Eric Hansen: Um selbstbestimmt zu handeln, braucht man Mut. Man muss die Vorteile, den Preis sehen, nicht nur das Risiko, nicht nur das böse eingebildete Gespenst, das einen bedroht. Natürlich geht es auch ohne.
Die Deutschen sind fleißig und sparsam und brav, und ihre Führer haben mehr Perspektive als sie – ihnen wird es immer gut gehen, es wird immer ein Markt für ihre Autos und ihre Roboter geben, und sie werden immer genug Geld haben, um die Innovationen und das neue Wissen anderer Länder einzukaufen. Ihre Lebensqualität wird nie wirklich leiden.
Nur, sie werden immer wissen, dass sie anderen Ländern hinterher hinken, sie werden immer auf andere Länder neidisch sein und vor ihnen Angst haben, wie sich das heute in ihrem Anti-Amerikanismus spiegelt, sie werden sich selbst immer ein bisschen verachten und gleichzeitig glauben, dass die Welt so viel besser wäre, wenn sie nur auf die Deutschen hören würden – ein Rezept für die ewige Unzufriedenheit.
Hounds & People: Vielen Dank für das Interview! Aloha, Eric!
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts) oder Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss
. Eric T. Hansen The Hula Ink Blog
Das Interview führte Astrid Ebenhoch, Journalistin und Gründerin von Hounds & People.
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