Letzte Woche sorgte eine VBE Studie für Aufsehen. In fast jeder zweiten Schule würde verbale oder handgreifliche Gewalt gegen Lehrer stattfinden.
Kinder, die Lehrer mit vulgären Ausdrücken beschimpfen. Kinder, die andere Kinder und Lehrer schlagen, wenn der Lehren einen Konflikt beenden möchte. Kinder die Lehrer im Internet mobben und Eltern die Lehrer beleidigen und bedrohen, weil sie der Meinung sind, dass ihre Kinder ungerecht behandelt wurden, so die Lehrer in dieser Studie.
Für die VBE Studie wurden bundesweit 1200 Schulleiter befragt. Das Ergebnis dieser Studie war, dass in den vergangenen fünf Jahren an fast jeder zweiten Schule Gewalt gegen Lehrer und Lehrerinnen stattgefunden hat. In den meisten Fällen fand die Gewalt von Kindern gegenüber Lehrer/innen in den Grundschulen statt. Die Studie wurde im Auftrag der Lehrergewerkschaft “Verband Bildung und Erziehung” (VBE) durchgeführt.
Wir führten hierzu mit dem Neurologen und Hirnforscher Prof. Dr. Gerald Hüther ein Interview.
H & P: Guten Tag Herr Prof. Hüther,
Prof. Hüther: Grüss Sie Frau Ebenhoch,
H & P: Ist die Gewalt an Schulen ein Symptom für die Verrohung in unserer Gesellschaft?
Prof. Hüther: Wenn sich Lehrer über ihre Gewerkschaft an die Öffentlichkeit wenden, um darauf hinzuweisen, dass sie sich von gewalttätigen Schülern und sogar deren Eltern bedroht fühlen, ist das ein sehr deutliches Eingeständnis eigener Hilflosigkeit. Das sollten wir sehr ernst nehmen, denn so etwas machen Lehrer nur, wenn sie wirklich nicht mehr weiterwissen.
Wenn der soziale Zusammenhalt unserer Gesellschaft schwindet, ist es nicht verwunderlich, dass die Gewaltbereitschaft in manchen Bereiche steigt. Dass davon nun aber auch die Schulen betroffen sind, ist ein alarmierendes Zeichen.
H & P: Der VBE, die Gewerkschaft der Lehrer, fordert massive Investitionen in Teams mit Schulpsychologen, Schulsozialarbeitern, weitere Fachkräfte und Lehrer durch ein breites Fortbildungsangebot um “auf den Umgang mit Heterogenität und das Verhalten in Konfliktsituationen vorbereitet werden”. Würde sich hierdurch für die Lehrer und die Kinder an den Schulen etwas ändern?
Prof. Hüther: Das sind ja die üblichen Forderungen. Aber es gibt wenig Evidenz, dass sich die Probleme an unseren Schulen dadurch wirklich lösen lassen. Haben wir nicht heute deutlich mehr derartige Fachkräfte an unseren Schulen als noch vor ein paar Jahren oder gar Jahrzehnten? Und hat sich dadurch irgendetwas verbessert? Im Gegenteil, der Aufschrei der Lehrergewerkschaft macht ja deutlich, dass es offenbar noch schlimmer geworden ist.
H & P: Worin sehen Sie die Ursachen für das Verhalten der Kinder?
Prof. Hüther: Kinder, die gern in die Schule gehen, die sich dort gesehen und wertgeschätzt fühlen, die dort für sie interessante Sachen erfahren und sich für sie wichtigen Fähigkeiten aneignen können, veranstalten dort doch keinen Terror. Dass weiß ja eigentlich jeder Lehrer, und es gibt ja auch Schulen, in denen die Schüler genau diese Erfahrungen machen und in denen es dann auch anders zugeht.
Diese Schüler mögen dann ihre Lehrer und kämen nie auf die Idee, sie anzugreifen. Das machen Heranwachsende nur dann, wenn sie sich in so einer Einrichtung nicht sehr wohl oder gar bedroht fühlen.
H & P: In Deutschland neigt man ja dazu, sich immer einen Schuldigen zu suchen. Ist das Verhalten der Kinder nicht ein Symptom, ein Spiegel dieser Gesellschaft und eine Bankrotterklärung, in der man nicht mehr weiß was Menschlichkeit, Respekt und Menschenwürde bedeutet?
Prof. Hüther: Das ist nicht so einfach. Stellen Sie sich vor, Sie sind so ein Pädagoge, der sich von den eigenen Schülern bedroht fühlt. Könnten Sie sich dann selbst dafür die Schuld geben? Da sucht man doch lieber nach anderen, die dafür verantwortlich sind. Klar ist das Verhalten dieser Kinder ein deutliches Zeichen dafür, dass etwas in unserer Gesellschaft nicht stimmt.
Aber es sind ja nicht alle, die Ihre Interessen auf Kosten anderer rücksichtslos durchsetzen, ohne Mitgefühl, Respekt und eigentlich zutiefst würdelos. Es sind nur einige. Aber die werden ja allzu oft auch noch als besonders erfolgreiche Vertreter in Film und Fernsehen, im Internet und sonstigen Medien dargestellt. Kein Wunder, wenn sich frustrierte Schüler daran orientieren und sie zu ihren Vorbildern machen.
H & P: Trägt nicht diese Gesellschaft die Verantwortung für das Verhalten der Kinder, die sich offensichtlich nur dagegen wehren wie Roboter für das System zu funktionieren? Warum wird das nicht hinterfragt?
Prof: Hüther: Wer ist die Gesellschaft? Das sind doch wir, also sind wir alle mit unseren überholten Vorstellungen davon, wie Schule zu funktionieren hat, dafür verantwortlich, dass sich Schüler in unseren Schulen wie Objekte behandelt fühlen.
Und machen wir das nicht tagtäglich selbst: andere belehren, herumkommandieren und bewerten, sie mit dem In-Aussicht-Stellen von Bestrafungen oder Belohnungen dazu bringen, optimal zu funktionieren, also sich so zu verhalten, wie wir das für richtig halten? Es ist nicht so leicht, seine alten Vorstellungen und sein eigenes Verhalten so grundsätzlich zu hinterfragen. Aber wer das wirklich machen will, kann das schon.
H & P: Wie sollen Kinder erfahren und lernen, was Respekt, Menschlichkeit und Menschenwürde ist, wenn sie dies selbst nicht erfahren und keine Vorbilder haben, die ihnen dies vorleben – weder Politiker, noch offensichtlich Eltern? Müssen nicht zunächst Erwachsene damit beginnen ihr eigenes Verhalten zu reflektieren?
Prof. Hüther: Kein Kind kommt respektlos, unmenschlich oder gar gewalttätig zur Welt. Wenn Heranwachsende sich so verhalten, müssen sie das von anderen Menschen gelernt haben, manchmal von gleichaltrigen, aber meist von uns Erwachsenen. Ihre Gehirne sind keine Fässer, die mit dem gefüllt werden, was wir ihnen beizubringen versuchen. Die betreffenden Vernetzungen entstehen dort oben nur dann, wenn das Kind damit etwas anfangen kann, wenn es also eine Lösung für etwas bietet, das ihm Probleme bereitet.
Und nun schauen Sie sich an, was für Lösungen für die Schwierigkeiten in ihrem Leben die meisten Erwachsenen gefunden haben: Ellenbogen nutzen, andere abwerten, rücksichtslos die eigenen Interessen verfolgen. Solange das die erfolgreichsten Bewältigungsstrategien in unserer Gesellschaft sind, brauchen wir uns nicht zu wundern, wenn unsere Kinder die nun auch, und inzwischen immer früher und auch gewaltbereiter entwickeln.
H & P: Ist das Schulsystem mit der Pädagogik in Deutschland veraltet, unmenschlich, nicht Hirngerecht und nicht mehr zeitgemäß?
Prof. Hüther: Etwas ist in unserem Schulsystem wirklich nicht mehr zeitgemäß: die Schulpflicht. Die gibt es ja inzwischen nur noch in Deutschland und sie hat eine fatale Auswirkung. Die erfährt jeder, der Schüler fragt, weshalb sie in die Schule gehen. „Weil ich muss“, lautet die Antwort. Und das ist vor allem die Antwort all jener Schüler, die dann auch alles Mögliche zu tun bereit sind, um diesen unliebsamen Ort und die dort tätigen Personen zu verlassen, zu beschädigen oder gar zu zerstören.
Für manche ist das die einzige Möglichkeit, sich selbst überhaupt noch einmal als gestaltungsfähiges Subjekt zu erleben. Wer dort hin muss um belehrt, unterrichtet und geprüft zu werden, fühlt sich so, als wäre er ein Objekt. Diese schmerzliche Erfahrung ist für manche nur schwer auszuhalten. Vor allem für Jungs, die doch zeigen wollen, dass sie etwas drauf haben.
H & P: Widerspricht bzw. verstößt, und verhindert die Schulpflicht dann nicht, gegen Art. 2 des Grundgesetz: “Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit…..” Vor allem wenn durch das Schulsystem seelische Schäden, Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern entstehen und auch Lehrer darunter leiden? Wurden deshalb schon Klagen eingereicht?
Prof. Hüther: Da kenne ich mich nicht aus, ich bin kein Jurist. Aber es wundert mich schon, dass es offenbar noch keine erfolgreichen Versuche von Eltern gibt, mit juristischen Mitteln gegen die Schulpflicht vorzugehen. Sie verletzt ja nicht nur das von Ihnen erwähnte Grundrecht auf eine freie Entfaltung der Persönlichkeit, sondern auch das der elterlichen Fürsorgepflicht für ihre Kinder (§ 171 StGB).
Eltern können ihr Kind doch nicht in eine Eirichtung schicken, wenn sie befürchten müssen, dass es dort Schaden nimmt, z.B. durch die wachsende Gewaltbereitschaft von Schülern, die sich ja nicht nur gegen Lehrer richtet, sondern auch gegen Mitschüler.
H & P: Welche Folgen hat dies für die Zukunft und die Gesellschaft in Deutschland, wenn sich nichts ändert?
Prof. Hüther: Jedes Kind, das in der Schule seine Lust am Lernen, also am eigenen Entdecken und am gemeinsamen Gestalten verliert, wird auch später im Leben nicht gern, und wenn, dann nur für eine Bezahlung arbeiten. Die Tätigkeiten, die Menschen lustlos und nur für den Gelderwerb verrichten, müssen diesen Personen genau vorgeschrieben werden. Und solche Tätigkeiten lassen sich auch in Algorithmen ausdrücken und dann können sie Roboter und Automaten verrichten. Industrie 4.0 heißt diese Entwicklung, die jetzt schon die gesamte Arbeitswelt revolutioniert.
Jeder Schüler, der heute seine Lust am Lernen verliert wird deshalb in dieser künftigen Arbeitswelt keinen Platz mehr finden. Was das für unser Land bedeutet, kann man sich ja leicht vorstellen. Es wäre eine hausgemachte Katastrophe.
H & P: Welche Voraussetzungen und Eigenschaften sollten Menschen erfüllen und besitzen, um in der zukünftigen Arbeitswelt einen Platz zu finden?
Prof. Hüther: Sie müßten vor allem Freude daran haben, sich immer wieder neues Wissen und neue Fähigkeiten anzueignen. Sie müßten Lust darauf haben, sich einzubringen und gemeinsam mit anderen die Zukunft zu gestalten. Und sie müßten vor allem das herausbilden, was uns Menschen von den digitalen Geräten, Automaten und Robotern unterscheidet: Co-Kreativität und Intentionalität, also die Fähigkeit zur gemeinsamen Suche nach neuen Lösungen und den Willen, das dabei Gefundene und Erkannte, auch gemeinsam umzusetzen.
Und sie müßten ein Bewußtsein ihrer eigenen Würde besitzen, das ihr Denken, Fühlen und Handeln bestimmt. Um einen jungen Erwachsenen, der diese Fähigkeiten aus der Schule mitbringt, braucht sich niemand Sorgen zu machen. Der findet seinen Weg, auch in der Welt von morgen.
H & P: Wie und warum müsste das Schulsystem in Deutschland geändert werden?
Prof. Hüther: Ziemlich radikal, fürchte ich. Deutlich machen läßt sich das anhand des folgenden Vorschlags für einen Modellversuch als Alternative zum Schulbesuch:
Nach der Grundschule bekommen all jene Schüler, die das wollen, die Möglichkeit, sich zu Lerngemeinschaften (4-8 Schüler/Gruppe) zusammenzuschließen und sich den Unterrichtsstoff der 5. Klasse (und später auch aller anderen Klassenstufen) selbständig als Mitglied dieses Lernteams anzueignen.
Das dafür erforderliche Material (Lehrbücher, Audio- und Videodateien, Internet etc.) besorgen sich die Lernenden selbst. Einen Lernplan mit entsprechenden Lernzielen erarbeiten sie in Eigenverantwortung.Die Lernorte sind variabel und werden von den Lerngruppen selbst gewählt. Begleitet wird der Aufbau und die Arbeit der Lerngruppen von einem Tutor. Ein Tutor kann bis zu 4 Lerngruppen betreuen, sie oder er muss kein Pädagogik-Studium absolviert haben.
Wichtiger sind aufrichtiges Interesse an den Heranwachsenden, Zugewandtheit, Offenheit und Kompetenz bei der Gestaltung fruchtbarer sozialer Beziehungen. Als Berater steht ca. 10 Tutoren jeweils ein entsprechend qualifizierter Pädagoge zur Verfügung. Die Mitglieder der Lerngruppen sind als solche in einer staatlichen Schule angemeldet. Am Ende eines jeden Lernjahres erwerben sie eine mit den schulischen Anforderungen und Abschlüssen identische Zertifikation ihres Leistungsstandes in den jeweiligen Fächern.
Erreicht wird mit diesem innovativen Bildungsansatz: die Aufrechterhaltung der Freude am Lernen, die Übernahme von Eigenverantwortlichkeit für den eigenen Bildungsprozess, die Selbstorganisation des eigenen Lernprozesses, die Erfahrung von Potentialentfaltung in individualisierten Gemeinschaften, die Nachhaltigkeit von Bildung und die Freude an der eigenen Weiterentwicklung in einer Gemeinschaft.
Nebeneffekte dieses innovativen Bildungsansatzes sind: Neubau, Unterhalt und Sanierung von Schulen als traditionelle Lernorte werden unnötig, Transport in Schulzentren fällt weg. Lehrkräfte für schulischen Unterricht werden eingespart, Eltern werden von Schulproblemen entlastet, Nachchhilfeunterricht wird nicht mehr gebraucht, die Region, in der dieser Modellversuch implementiert wird, gewinnt an Attraktivität für all jene Eltern, die mit dem gegenwärtigen System der Beschulung ihrer Kinder unzufrieden sind.
H & P: Gutes Konzept! Ähnliche kenne ich aus dem Ausland, die dort schon lange umgesetzt werden. Dieses Konzept setzt aber Eigeninitiative, Engagement, selbstständiges Denken und selbstbestimmtes Handeln voraus? Wohin sollen die Eltern in Deutschland dann für den ganzen Tag ihre Kinder “abliefern”?
Prof. Hüther: Da sprechen Sie das wahrscheinlich größte Problem unseres gegenwärtigen Schulsystems an. Unsere Bildungspolitiker, aber auch die Eltern werden sich wohl nicht mehr sehr lange vor der grundsätzliche Entscheidung drücken können, ob unsere Kinderkrippen, Kindergärten und Schulen entweder Orte für die Bildung junger Menschen sein sollen oder Einrichtungen, in denen Kinder und Jugendliche aufbewahrt werden, damit ihre Eltern arbeiten gehen können.
Das sind zwei völlig verschiedene Anforderungen, und die Erfahrungen der letzten fünfzig Jahre sprechen dafür, das es trotz ständiger Reformversuche in den meisten Schulen nicht möglich ist, beide wirklich konstruktiv miteinander zu verbinden. Im Zweifel ist Aufbewahren die einfachere, billigere und für alle Seiten bequemere Variante, auch wenn Bildung so wohl kaum gelingen kann. Auch hier sind die Leidtragenden die Schüler, aber die haben eben keine Lobby.
„Kein Mensch kann die in ihm angelegten Potentiale entfalten, wenn er in seiner Würde von anderen verletzt wird oder er gar selbst seine eigene Würde verletzt.“ — Prof. Dr. Gerald Hüther
Eine weitere Initiative von Prof. Hüther Der Würdekompass
Prof. Gerald Hüther gehört zu den kritischen Wissenschaftlern in Deutschland, der auch zu ADHS bei Kindern (zu Gunsten der Pharmaindustrie und dem Gesundheitssystem) klare Position bezog: “ADHS ist zunächst nicht mehr als die Bezeichnung für eine Sammlung von Symptomen, die man bei Kindern beobachten kann. Mediziner sind gezwungen, für bestimmte Behandlungen bestimmte Namen zu erfinden. Sie definieren Krankheiten, um die Behandlung bei den Krankenkassen abrechnen zu können, und genau das ist bei ADHS geschehen.”
Prof. Gerald Hüther ist Gründungsmitglied der Netzwerke Archiv der Zukunft – Netzwerk für Schulentwicklung, Wissenschaftliches interdisziplinäres Netzwerk für Erziehung und Bildungsfragen, Netzwerk für humanitäre Fragen in der Wirtschaft Forum Humanum und initiierte den seit November 2000 jährlich stattfindenden Kongress für Erziehung und Bildung in Göttingen.
Das Interview führte Astrid Ebenhoch, Journalistin und Herausgeberin von Hounds & People
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