Es kann einem schon den Magen umdrehen: Vor nur ein paar Jahrzehnten schien Weihnachten noch eine Zeit der Besinnlichkeit, ein Fest der Liebe und der Geburt Jesu Christi. Heute ist Weihnachten der größte, brutalste und verheerendste Kaufrausch der Weltgeschichte.
In Amerika fällt der alljährliche Startschuss an dem sogenannten Schwarzen Freitag Ende November, wenn wildgewordene Kunden die Läden wie gehetzte Tiere stürmen, um einander die besten Schnäppchen aus den Händen zu reißen.
Die Liste der Gewaltexzesse am Schwarzen Freitag aus den vergangenen zehn Jahren ist lang: In Kalifornien wurden neun Menschen von einer jubelnden Menge zertrampelt, als es Rabattcoupons von der Decke regnete. An einem Walmart in New York wurden von der wartenden Menge die Türen aufgebrochen und ein 34-jähriger Angestellte kam unter ihren Füßen zu Tode. In einem Laden in Kalifornien benutzte eine Frau Pfefferspray, um ihre Konkurrenten von den guten Schnäppchen wegzujagen. Die Liste der Kunden, die nach Streitigkeiten in und vor den Läden mit Waffen aufeinander losgehen, wächst von Jahr zu Jahr.
Auch in Deutschland wird das Weihnachtsgeschäft immer lebensgefährlicher. Am ersten Verkaufstag der neuen PlayStation 4 kam es in mehreren Elektronikläden zu Tumulten: Fensterscheiben wurden eingeschlagen und Kunden mussten wegen Schnittwunden und Prellungen verarztet werden.
In Deutschland beginnt die Weihnachtssaison sogar früher als in Amerika, und warum auch nicht? Hier fing schließlich die Kommerzialisierung Weihnachtens vor Jahrhunderten mit der Erfindung des Weihnachtmarktes an, und heute macht auch hier das Weihnachtsgeschäft zwischen 25 und 50 Prozent des Umsatzes im Einzelhandel aus, je nach Geschäftssegment. Ohne Weihnachten würde das für uns so lebenswichtige kapitalistische System zusammenbrechen und Deutschland müsste Geld von Griechenland ausleihen.
Wer die Kommerzialisierung der Weihnachtszeit kritisiert, hat Weihnachten nicht verstanden.
Wir begreifen Weihnachten als das Fest zur Geburt Christi, aber das ist nur zur Hälfte richtig. In Wahrheit besteht es aus zwei zusammengeschmolzenen Festen. Die andere Hälfte war immer das Fest des Schenkens.
Wie alles begann
Der historische Sankt Nikolaus war ein Bischof im römischen Myra des 3. Jahrhundert, in der heutigen Türkei, der für ein Verhalten bekannt wurde, für das er heute wahrscheinlich in den Knast wandern würde: Er schmiss anonym Goldklumpen durch die Fenster dreier armen Jungfrauen, denn sie hatten keine Mitgift, und ohne Mitgift kamen sie bei den Jungs in der Nachbarschaft einfach nicht an. Im katholischen Mittelalter wurde dann sein Gedenktag, der 6. Dezember, zum beliebtesten Heiligentag überhaupt, weil jedermann dem Heiligen nacheiferte und anonym Geschenke in Stiefeln deponierte.
Dann kam Luther, der Heilige nicht ausstehen konnte. Er verbot die Heiligentage, doch am Nikolaus biss er sich die Zähne aus: Auf den Tag des Schenkens wollte niemand verzichten. Ein Kompromiss musste her: Der Heilige wurde durch einen dubiosen Weihnachtsmann ersetzt, der Tag des Schenkens vom 6. Dezember auf den 24. Dezember verlegt. Seitdem ist Weihnachten zwei Feiertage in einem: Der Tag Christi Geburt und eben der Tag des Schenkens.
Luther haben wir zu verdanken, dass der heutige Weihnachtsmann eine durch und durch weltliche Figur ist. Einmal den Fängen der Kirche entrissen, hat er sich in zahlreichen Varianten immer weiter entwickelt, vom holländischen Sinterklaas bis hin zum amerikanischen Santa Claus.
Das ist auch gut so, denn Schenken kommt sehr gut ohne Religion aus.
Manche Indianerstämme Nordamerikas zum Beispiel verehrten ein oder zwei schrammelige Gegenstände, die in einer Schenkzeremonie regelmäßig von Stamm zu Stamm wanderten. Man schenkte zum Beispiel eine alte Friedenspfeife, die bei Gelegenheit weiterverschenkt wurde, bis in einigen Jahren das olle Ding wieder im eigenen Dorf auftauchte. An sich war es nicht viel wert: Eine bessere Friedenspfeife konnte jedes Kind basteln. Aber es symbolisierte die Zusammengehörigkeit aller Stämme und drückte den gegenseitigen Respekt aus.
Obwohl einem heute ein abgenutzte Friedenspfeife wohl an den Kopf geworfen werden würde, ist unser Fest des Schenkens für unsere Gesellschaft genauso wichtig wie für die Indianer – auch wenn wir Pfefferspray brauchen, um an die echt guten Geschenke zu kommen.
Wir geben das Geld ja nicht für uns aus
Der Purist meckert gern und oft über die Kommerzialisierung des Weihnachtsfestes, aber er verschweigt, dass wir das meiste Geld nicht für uns selbst, sondern für andere ausgeben. Ich würde sogar wagen zu behaupten, noch nie in der Geschichte der Welt hat der Durchschnittsmensch so viel Geld für seine Familie, Freunde und Nachbarn investiert wie in unserer Zeit.
Wenn wir ehrlich wären, würden wir einfach zugeben, dass wir am Weihnachten eigentlich ein Doppelfest feiern: einerseits die Geburt Christi, andererseits die selbstlose, anonyme Tat des Nikolaus.
Das erklärt auch, warum Weihnachten auch zu einer zunehmend säkularisierten Welt passt und sogar von Nicht-Christen angenommen wird: Muslimen in Deutschland oder Shintoisten in Japan werden vielleicht Christus in der Krippe nicht anbeten, aber sie würden wohl das selbstlose Schenken feiern und Santa Claus als Symbol dessen hochhalten.
Wenn Sie also vom Einkaufsstress erschöpft sich für das ganze exzessive Geldausgeben wieder mal geißeln, denken Sie an die drei armen Jungfrauen, die dank der Großzügigkeit eines Nikolaus heiraten konnten – und seien Sie froh, dass Sie Ihre Liebsten nicht mit irgendwelchen langweiligen Krawatten oder Bügeleisen abgespeist haben.
Ihnen allen wünsche ich ein gesegnetes und frohes Fest und eine warme Mele Kalikimaka!
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt sein halbes Leben in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts) oder Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss
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