Als Ami höre ich immer wieder von den Deutschen, sie seien besonders “kritische Denker”, und das “kritische Denken” sei sehr wichtig, weil sonst böse Dinge passieren.
Auch in diesen Tagen wird unglaublich viel „kritisch“ gedacht: Man überschlägt sich wieder mit Begründungen, warum Deutschland die Flüchtlinge nicht aufnehmen kann, warum die Aufnahme der Flüchtlingen schiefgehen wird, wer an das Flüchtlings-Problem schuld ist (Amerika natürlich) und wie Deutschland darunter leidet und immer leiden wird. Komisch – in den letzten vier Jahren dieser Krise wurde so wenig kritisch darüber nachgedacht, auf einmal so viel!
All das kommt aus dem Land der Dichter und Denker, das von sich behauptet, „differenziert“ und „sachlich“ zu denken und natürlich ein überlegene Bildungssystem und Presse zu pflegen und überhaupt, intellektuell, links und besonders moralisch zu sein.
Und ich erkenne ein bestimmtes Muster: Wenn es Deutschland gut geht, feiern die Deutschen ihre moralische Überlegenheit und ziehen andere Länder heran – Amerika vor allem – als Beispiel für Länder, die moralisch unterlegen sind. Donald Trump zum Beispiel, der auf Ausländer wettert – schlimm, ganz schlimm, das kann hier nicht passieren – doch sobald die Flüchtlinge nach Deutschland kommen, ist jeder deutsche Intellektuelle ein kleiner Donald Trump, der die Migranten direkt und indirekt zum Unglück Deutschlands erklärt, nur mit noch skurrileren Argumenten.
Das Muster sehe ich immer wieder in Deutschland: Als 1989 die Mauer fiel waren die Deutschen 5 Minuten lang euphorisch – dann sofort kamen die kritischen Denker, die in Artikeln und in Bestsellern klar begründet haben, warum es nicht klappen kann, ein schlimmer Fehler war, die Politik und das Volk überfordert und rückgängig gemacht werden muss. Die Reaktion der deutschen Intellektuellen von rechts und links auf die Wiedervereinigung war so ekelhaft und unter ihrer Würde, dass ich mich jetzt noch für Deutschland schäme.
Jetzt passiert es wieder: das „kritische Denken“ verlangt, dass man ein fadenscheiniges Argument nach dem nächsten erfinden muss, um die eigene Angst (und – doch doch – Rassismus) zu rechtfertigen, sogar zu feiern, bis das ganze Internet voller jammernder, keifender Deutschen ist, und nicht eine einzige Stimme dabei diskutiert sachliche Lösungen auf eine Herausforderung, sondern man geilt sich an Endzeitszenarien auf, bis wir von Außen auf das Land der Dichter und Denker schauen und uns fragen: Sind das alles nur lauter verängstigte heulende Kinder hier, oder was?
Wenn andere Länder ein Problem sehen, suchen sie eine Lösung; wenn die Deutschen ein Problem sehen, suchen sie eine Schuldigen. Der Deutsche ist immer entweder nur der Gute mit der Weißen Weste oder das Hilflose Opfer das von der Welt ausgebeutet wird.
Was die Europäer von uns Amis lernen können:
In einer Post beschwerte sich jemand bitter, dass ich mir als Ami anmaße, die deutsche Einwanderungspolitik zu kritisieren.
Es tut der deutschen Seele natürlich gut, sich einzubilden, dass die Amis viel schlimmer sind als sie, und es stimmt auch, dass viele Amerikaner unsere eigene Einwanderungspolitik kritisieren (Obama versucht gerade, die Gesetze aufzulockern und eine neue Amnestie für langjährigen Illegale auszurufen). Allerdings kann Europa tatsächlich einiges von Amerika in Punkto Einwanderung lernen. Erst mal die Zahlen:
Die USA nimmt jährlich auf:
- rund 48.000 Asylbewerber (Anerkennungen 2007 – zum Vergleich wurden in Deutschland 2013 20.000 Asylbewerber anerkannt – bessere Zahlen finde ich nicht);
- zwischen 500.000 und 750.000 legale Einwanderer;
- zwischen 500.000 und 750.000 illegale Einwanderer.
Dazu kommt, dass von diesen Einwanderern jedes Jahr zwischen 500.000 und 750.000 Personen eingebürgert werden. Die Einbürgerungen in Deutschland sind unter 100.000 jährlich.
Zur Zeit leben rund 43 Millionen „Migranten“ in den USA (Menschen, die in den USA nicht geboren wurden, aber dort leben; ihre Kinder, die in den USA geboren wurden, erscheinen nicht in dieser Zahl, denn sie sind automatisch Staatsbürger), dazu rund 11 Millionen illegale Einwanderer. (Zum Vergleich: zur Zeit leben in Deutschland rund 8 Millionen „Ausländer“.)
Was kann Europa von Amerika lernen?
- Trotz Hitzköpfen wie Donald Trump gehen die meisten Amerikaner sowie die historische amerikanische Gesetzgebung davon aus, dass Einwanderung gut ist für das Land, nicht, weil wir so viele leeren Arbeitsplätze haben, sondern, weil das frische Blut die Gesellschaft erneuert und Innovation fordert. Die Grundattitüde ist also Pro-Einwanderung – Leute wie Trump sind nicht die Norm, sondern eine Reaktion auf die Norm.
- Wir haben ein Einwanderungsgesetz, Einwanderungsquoten und eine Green Card Lottery;
- Im Englischen gibt es die Wörter „Asylbetrug“ und „Wirtschaftsflüchtling“ nicht – wir sagen „Migranten“;
- alle paar Jahre werden durch Amnestie-Gesetzgebung illegale Einwanderer, die lange in den USA „undokumentiert“ gelebt haben, legalisiert;
- illegale Einwanderer, die festgenommen werden, werden nicht Jahrelang im Lande behalten, sondern schnell zurückgeschickt, damit sie mit ihrem Leben weitermachen können;
- das FBI jagt Schlepperbanden (jedes Jahr sterben an der riesigen mexikanischen Grenze rund 500 illegale Einwanderer, meist durch Überhitzung. Zum Vergleich: in den letzten sieben Jahren sind im Mittelmeer geschätzte 23.000 Flüchtlinge ertrunken.)
Es ist Zeit, dass Deutschland und Europa Einwanderungsgesetze haben.
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts) oder Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss
. Eric T. Hansen The Hula Ink Blog.
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