Vorgestern hatte ich einen Vortrag in Münsterland (das Foto: Sah so aus – wie ein Prediger hinter der Kanzel) und hinterher sprach ich mit den Leuten, die allesamt Amerika liebten, und es kam mehrmals vor, dass sie darüber erschrocken waren, wie groß der Armut in Amerika ist.
Auch letztens hatte ich ein Gespräch in Berlin mit einer Redakteurin eines großen öffentlich-rechtlichen Senders, in dem sie sich so nebenher über die hohe Armut in Amerika empörte.
Immer, wenn ich dieselbe Meinung über Amerika aus verschiedenen Ecken gleichzeitig höre, ahne ich, dass die nationalen Medien in letzter Zeit sehr viel (und sehr empört) darüber berichtet haben.
Merkwürdigerweise höre ich nichts über die Armut in Deutschland. Entweder gibt es tatsächlich so gut wie keine Armut in Deutschland, oder die Medien verschwiegen (es bei gleichzeitiger empörten Berichterstattung über die Armut in anderen Ländern).
Nun sind die neuen Zahlen aus den USA da – die Armut in Amerika liegt zur Zeit bei 12,7%. (Vor ein paar Jahren lag sie ein Punkt höher).
In Deutschland liegt die Armut offiziell bei 15,4%.
Moment mal – das muss man erstmal relativieren. Die Kriterien für die Bemessung von Armut sind in den beiden Ländern anders, sodass der Vergleich schwierig ist. Vor ein paar Jahren sah ich eine vergleichende Zahl (ich glaube, es war OECD), die die USA bei 15% und Deutschland bei 10% einstufte. Diese Spannbreite kommt wahrscheinlich näher an die Wahrheit dran. Wenn die Zahl in Amerika seitdem gesunken ist und in Deutschland fast gleich geblieben ist, wie es scheint, dann würde ich vergleichend die Zahlen eher bei 14% in Amerika, 10% in Deutschland schätzen.
Ein Unterschied zwischen Deutschland und Amerika gibt es also wahrscheinlich doch, und Deutschland steht auch wahrscheinlich etwas besser da.
Aber sehr hoch ist der Unterschied nicht – nicht so hoch, dass man sich als Deutscher über Amerika empören dürfte.
Wenn ich mich in Deutschland rumgucke, gibt es stark verarmte Gegenden und verwahrloste innerstädtische Nachbarschaften, genau wie in Amerika, aber weder in Amerika noch in Deutschland ist die Armut mit der dritten Welt vergleichbar.
Es ist schade und mir peinlich, dass sie in Amerika höher ist als in Deutschland, aber so viel höher ist sie nicht, als dass man sich als Deutscher darüber moralisch empören sollte.
Was ich aber viel bezeichnender finde, ist, dass man diese Zahlen im Vergleich niemals hört.
Alle sagen, die Armut in Amerika ist so hoch, aber in Medienberichten liest man nie die vergleichenden Zahlen aus Deutschland. Warum? Ich denke, die Antwort ist einfach: Der Leser soll sich empören, aber das kann er nicht, wenn er weiß, dass es in Deutschland nur wenig besser ist.
Auch diese Zahlen lese ich nie im Vergleich: Die Durchschnittsarmut in der EU (deren Bevölkerungszahlen und kulturellen Unterschiede mit den USA vergleichbar sind) liegt höher als in Amerika.
Die Armutsquote in Europa liegt bei rund 17% (2015), und ein halbes Dutzend Länder liegen weit über dieser Durchschnittsgrenze – die Armut in Rumänien liegt bei 25% und in Griechenland, über dessen Wirtschaft Deutschland maßgeblich bestimmt, liegt sie bei 21%.
Davon lese ich in der Zeitung so gut wie nie, und in Diskussionen am Stammtisch höre ich nie etwas davon. Im deutschen Bewusstsein wird es ausgeklammert – weil die Medien sich keine große Sache daraus machen, ist man sich nicht bewusst, wie die Lage der unmittelbare Umgebung ist.
Dabei trägt Deutschland eine maßgebliche Verantwortung für die Armut in Europa – Deutschland bestimmt zum größten Teil die europäische Wirtschaftspolitik und Europa ist Deutschlands größter Exportmarkt. Trotzdem höre ich selten in den Medien Kommentare zur Armut in Europa oder gar zu Deutschlands Verantwortung dafür.
Auch im Wahlkampf wird das Thema ausgeklammert. Doch jedes deutsche Kind weiß, wie schrecklich alles in Amerika ist (das ist keine Übertreibung – ich höre solche Sprüche aus dem Mündern der Nachbarskinder, die mir aber nicht sagen können, was eine Große Koalition ist oder seit wann es in Deutschland Demokratie gibt).
Das ist es, was ich meine, wenn ich von tendenziell nationalistischer und anti-amerikanischer Berichterstattung in den deutschen Medien spreche.
Amerika wird als ein Abschreckungsbild oder gar als ein Feindbild benutzt, um von der eigenen Verantwortung und von der eigenen Situation abzulenken.
Das macht die Deutschen nicht nur ausländerfeindlich, das macht sie dumm – sie sind gerade gut genug informiert, sich über Missstände im Ausland zu empören, aber nicht gut genug informiert, ihr eigenes Land unter die Lupe zu nehmen.
Hier ein paar Links:
Amerika Armut 2016:
https://www.census.gov/newsroom/press-releases/2017/income-povery.html
Reale vs. gefühlte Armut USA:
Europa Armut:
https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1171/umfrage/armutsgefaehrdungsquote-in-europa/
Deutschland Armut:
http://www.zeit.de/wirtschaft/2016-02/armut-deutschland-2016-paritaetische-verband
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Buchautor, Journalist und Satiriker, lebt seit über 20 Jahren in Deutschland und heute in Berlin. Seine Bücher: Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts) oder Die ängstliche Supermacht: Warum Deutschland endlich erwachsen werden muss
und Neuntöter: Thriller
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