Faszinierenderweise ist das Hindernis in der Hundeerziehung oft nicht so sehr die eigentliche Übung. Hierbei handelt es sich meist um ganz einfache Dinge.
Leinenführigkeit kann man beispielsweise damit trainieren, dass man Konsequent die Richtung wechselt, sobald der Hund seinen Halter überholt oder anfängt, in eine bestimmte Richtung zu ziehen. Der Mensch dreht sich hierauf hin um und geht in die entgegengesetzte Richtung weiter. Eine sehr simple Trainingsmethode, die – wenn sie konsequent umgesetzt wird – einen langfristigen Erfolg verspricht. Der Hund lernt, dass es immer der Mensch ist, der entscheidet, wohin die Reise geht und dass sein Ziehen an der Leine überhaupt keinen Erfolg hat. Oder nehmen wir den Rückruf als Beispiel, dass im weiteren Verlauf dieses Artikels viel eingängiger ist.
Beim Spaziergang erlebt man immer wieder, wie Halter im militärischen Befehlston mit hochrotem Kopf und Wutschaum vorm Mund „Bello HIER!“ durch den Park brüllen. In diesen Situationen versteht man sofort, warum Bello überhaupt nicht gerne zurückkommt. Wir als Menschen würden diesem Hundehalter auch so weit wie möglich ausweichen. Niemand kommt gerne zurück, wenn er dort mit Wut und Geschrei empfangen wird. Wer seinem Hund hingegen von Anfang an beibringt, dass Spaß angesagt ist, sobald man ihn ruft, wird ihn wohl eher selten im Park einfangen müssen. Auch hier ist das Training eigentlich ganz einfach: Hund rufen und ihn mit Leckerlies, Spiel, Kuscheln, Freudesprüngen und ähnlichem überschütten, sobald er da ist – eben alles machen, was auch dem Hund Freude macht und dazu führt, dass er gerne zu uns zurück kommen möchte.
Und damit sind wir schon am entscheidenden Punkt angelangt: vor Freude aus der Hose zu springen und jubelnd den Hund zu begrüßen ist kinderleicht. Nicht die Aufgabe hindert uns, sondern die Befürchtungen, was andere Menschen von uns denken könnten, wenn sie uns dabei beobachten. Nur zu oft sind es die effektivsten und tierfreundlichsten Trainingsmethoden, die von uns verlangen, uns zum Affen zu machen. Nicht der Richtungswechsel bei der Leinenführigkeit macht uns Sorgen, sondern die Tatsache, dass uns dabei jemand beobachten und uns für verwirrt halten könnte. Nicht Jubel, Trubel, Heiterkeit stehen uns beim Rückruftraining im Weg, sondern das Gefühl, alle Augen im Park seien auf uns und unser merkwürdiges Verhalten gerichtet.
Es gibt dieses Phänomen in allen Lebensbereichen, nicht nur der Hundeerziehung. Unsere gesamte Gesellschaft wird durch ein Netzwerk an nicht niedergeschriebenen Regeln zusammengehalten, die sich zu dem Zusammenfügen, was wir als „öffentliche Meinung“ oder „die Öffentlichkeit“ bezeichnen. Niemand würde einem verbieten, sich im Park auf den Boden zu werfen und sich mit seinem Hund über den Boden zu kullern (mal angenommen, dies wäre für den Hund die ultimative Belohnung für das Zurückkommen). Wir würden es dennoch nicht tun, aus Angst davor, was man von uns denken könnte. Einzig und allein deshalb, weil es nicht das ist, was die Gesellschaft von einem „normalen“ Menschen und „normalen“ Hundehalter erwartet.
Viele von Ihnen werden an dieser Stelle von sich sagen, dass sie damit keine Probleme hätten. In der Theorie hören sich solche Trainingsaufgaben auch leichter an, als sie sind. Sich von diesen Zwängen der Gesellschaft zu befreien ist aber nicht leicht, ja nahezu unmöglich.
Als die Wissenschaftlerin Elisabeth Noelle-Neumann im Zuge ihrer Theorie der Schweigespirale die Gesellschaft als Ursprung für einen Konformitätszwang beschrieb, war das Entsetzen bei vielen groß. Der öffentlichen Meinung wolle sich niemand gern widersetzen, keiner wolle gern aus der Reihe tanzen, erklärte Noelle-Neumann. Gerade ihre Studenten, die sich ihrer Hauptbeschäftigung entsprechend als Freidenker, Individualisten und von den Zwängen der Gesellschaft befreit sahen, zweifelten diesen Druck zur gesellschaftlichen Unterordnung an. Sie glaubten nicht, dass sie selbst auch diesem Zwang zum Mainstream unterworfen waren und stellten sich dem Selbstversuch.
In seinem Buch „Die Macht öffentlicher Meinung – und warum wir uns ihr beugen. Über die Schattenseiten der menschlichen Natur“ dokumentiert Erich Lamp Ergebnisse dieser sogenannten Breaching Experiments (also der Versuch, solche ungeschriebenen Regeln der Gesellschaft zu durchbrechen). Die Aufgaben der Studenten waren dabei immer ganz einfach. Hier einige Beispiele für solche Experimente: laufe in der Straßenbahn auf und ab, ohne dich hinzusetzen. Gehe auf den Marktplatz in der Innenstadt und singe ein Lied. Setze dich in ein Lokal und beobachte die anderen Gäste durch ein Loch, dass du in eine Zeitung geschnitten hast. Gehe in ein Restaurant zu den Menschen am Nachbartisch und frage, ob du mal deren Essen probieren dürftest. Die einzige Schwierigkeit: erkläre dich nicht, sage niemanden, dass es sich hierbei um ein wissenschaftliches Experiment handelt.
Die Studenten scheiterten reihenweise. Dies lag keinesfalls an ihrer schwachen Persönlichkeit. Es liegt an der Tatsache, dass der Mensch ein Herdentier ist. Wir wollen nicht von der Gesellschaft ausgeschlossen werden, weil man uns für anders, skurril, schräg hält. Das ist es, was schon Freud beschrieb, als er sagte, dass der Kern des sogenannten Gewissens eigentlich soziale Angst sei. Sie zwingt uns, uns an das zu halten, was in der Gemeinschaft als Gut angesehen wird. Wir haben das Jahrtausende alte Wissen in uns, dass wir nur in der Gemeinschaft stark sind, nur in Kooperation mit anderen überleben können. Darin sind wir unseren Hunden sehr ähnlich. Dieses Wissen zwingt uns dazu, logisch erscheinen zu wollen. Das schlimme, so beschrieb es einer der Studenten, sei nicht die Angst gewesen, von einem Bekannten bei dem Experiment gesehen zu werden. Denn einem Bekannten könnte man das Verhalten ja auch im Nachhinein erklären. Das Schlimme wären die vielen Unbekannten gewesen, die nur diesen einen Eindruck von einem bekommen und nicht wissen, dass man eigentlich ein ganz normaler Mensch sei.
Ebenso verhält es sich im Training mit dem eigenen Hund. Der Mangel an Erklärungsmöglichkeiten ein wesentlicher Punkt, der das Training erschwert. Es ist leider nicht möglich, allen Passanten im Park zu erklären, dass man deswegen jubelnd mit Wurst um sich wirft, weil dies die einzig wirksame Methode ist, den eigenen Hund zum Zurückkommen zu bewegen. Und selbst wenn es die Möglichkeit gäbe, wären wir trotzdem gehemmt. Denn noch ist es nicht das gängige Verhalten, noch gilt es nicht als normal, seinen Hund im öffentlichen Bereich derart zu bespaßen. Normal ist es, den Hund am Parkeingang abzuleinen und sich erst wieder mit ihm zu beschäftigen, wenn man ihn zum Gehen anleinen möchte.
Die für den Erfolg jeder Hundeerziehung notwendige Konsequenz wird von diesem Gesellschaftsdruck ebenfalls beeinflusst. Es ist schon schwer genug, alleine zu Hause und hinter verschlossenen Türen konsequent zu bleiben, wenn der eigene Hund zum Beispiel mit treuen Augen um Aufmerksamkeit bettelt. Doch in der Öffentlichkeit ist diese Konsequenz immer schwieriger umzusetzen. Den einen oder anderen Richtungswechsel beim Leinenführtraining lässt man dann mal eben sein, weil gerade zu viele Menschen zusehen. Der Rückruf im Park fällt weniger enthusiastisch aus, weil just in dem Moment ein Passant stehengeblieben ist und rüber geschaut hat. Der Hund lernt dabei nur, dass der eigene Mensch wohl auch nicht so genau weiß was er will und dass man wohl doch mal an der Leine ziehen oder auch mal ein paar Rufe des Herrchens abwarten kann, bevor man den Rückweg antritt. Unsere Rücksichtnahme auf die Erwartungen, die fremde Menschen an uns zu stellen scheinen, macht es uns in der Erziehung unserer Hunde unnötig schwer. Im schlimmsten Fall scheitern wir und wenden uns anderen, weniger peinlichen und oft auch weniger hundeverträglichen Trainingsmitteln zu. Hier weicht dann oft das Lob den Strafmaßnahmen, weil diese nicht nur auf schnellem Wege Erfolg zu versprechen scheinen, sondern vor allem auch vom Menschen nicht verlangen, über seinen Schatten zu springen und aus sich raus zu gehen.
Insbesondere wenn man sich anschaut, wie gehemmt und unterkühlt hierzulande die meisten Menschen ihre Hunde loben, kann man die Befürchtung der Halter, durch zu viel Emotionalität und Enthusiasmus vielleicht negativ aufzufallen, deutlich sehen. Dabei ist der ständige Zwang, normal zu erscheinen und sich in die Vorstellungen der Gesellschaft gut einzufügen, keineswegs ein ausschließlich deutsches Problem. Die soziale Kontrolle gibt es in allen Kulturen, Gesellschaften und Nationen. Jedoch kommt für uns Deutsche erschwerend hinzu, dass in unserer Gesellschaft die Menschen eher zur Verschlossenheit und Distanziertheit neigen und ihre Gefühlsregungen nicht in der Öffentlichkeit zeigen. Denn dies wäre für die stark leistungsorientierten Deutschen angeblich keine gute Eigenschaft. In zahlreichen traurigen Fällen werden die eigenen Gefühle nicht einmal im privaten Umfeld gezeigt – mit schweren gesundheitlichen Folgen.
Der Umgang mit unseren Hunden spiegelt diese Reserviertheit wider. Sie beschränkt uns in unserer Motivation engagiert mit unserem Tier zu trainieren. Sie lässt uns die guten Eigenschaften unserer Hunde nicht deutlich genug heraus kitzeln – einfach weil wir uns nicht trauen, unserem Vierbeiner deutlich körperlich und verbal zu zeigen, dass wir uns über sein gezeigtes Verhalten wirklich freuen. Und das, obwohl viele Hunde uns zuliebe schon eine ganze Menge tun, denn für sie ist die gemeinsame Freude schon eine große Belohnung.
Glücklicherweise lässt sich hier abschließend sagen, dass alles, was als normal und gesellschaftlich akzeptiert gilt, einem Wandel unterworfen ist. Der Dank gilt allen mutigen Menschen, die sich dem Normalsein entgegenstellen und sich stattdessen so verhalten, wie es für sie und ihren Hund das Beste ist. Je mehr Menschen heute noch ungewöhnliche Trainingsmethoden an den Tag legen, desto selbstverständlicher werden diese. Umso leichter wird es für jeden einzelnen Hundehalter, mehr darauf zu achten, wie er dem eigenen Hund etwas Gutes tun kann und sich weniger Sorgen darum zu machen, was wohl die Passanten dabei denken könnten.
Über die Autorin: Studium der Publizistik, Anglistik und Rechtswissenschaften, Journalistin und ausgebildete Hundetrainerin.
Sarah, toller Artikel, danke dafür!!! Wir sind gespannt noch mehr von Dir zu lesen!