Alles so wahnsinnig intellektuell hier – dabei dreschen die Deutschen oft nur hohle Phrasen und denken in Schubladen. Sie haben verlernt, Fragen zu stellen.
Wir alle haben unsere Illusionen. Die Franzosen glauben, sie produzierten gute Filme. Die Engländer glauben, sie hätten genauso viel zu melden wie damals, als sie noch Weltreich waren. Wir Amis glauben neuerdings, wir könnten Fußball spielen. Die Deutschen pflegen eine ganz besondere Illusion: Sie glauben, sie dächten kritisch.
Dieser nationale Mythos drückt sich in einer Vielzahl von Klischees aus: Der Deutsche differenziert. Er denkt nicht in Schwarz/Weiß-Schablonen oder gar in Schubladen. Er pauschalisiert nicht. Der Deutsche sucht nach Hintergründen. Sprüche, mit denen der Deutsche seine überlegene Fähigkeit zum kritischen Denken reflektiert, gibt es wie Sand am Meer. Die Deutschen sind aber offenbar so sehr davon überzeugt, kritisch zu denken, dass sie nicht mehr in der Lage sind, kritisch darüber nachzudenken, ob das wirklich stimmt.
Das Gegenteil ist der Fall: Ich kenne heute kein Volk, das so sehr in Schubladen denkt – meist auch in uralten Schubladen – wie das deutsche. Die Linken haben ganz klare Positionen, die meist vor einem Jahrhundert festgelegt wurden und nicht mehr hinterfragt werden, und die Konservativen auch. Die Linken kritisieren die Rechten, die Rechten kritisieren die Linken, aber keiner denkt kritisch über die eigene Position nach. Es sei denn, er will nicht mehr eingeladen werden.
Der politische Dialog ist heute eine vorhersehbare Folge populistischer Klischees, die auf Facebook, Stammtischen und in Politsendungen vorgetragen, aber nie hinterfragt wird. Als Faustregel gilt: Wenn ein Thema besonders hysterisch besprochen wird, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es sich um Blödsinn handelt.
Nehmen wir die fast flächendeckende Ablehnung von “Chlorhühnchen”. Was ein Chlorhuhn ist, kann mir keiner sagen, auch nicht, warum Chlor schlecht sein soll, wenn ich doch bei jedem Besuch eines öffentlichen Schwimmbades massenweise Chlor schlucke. Oder genmanipulierte Lebensmittel. Wenn ich heute einen aufgeregten Artikel gegen Genfood lese, schaue ich nach, wo und was die darin zitierten Experten studiert haben. Nur einmal habe ich unter den vermeintlichen Experten einen echten Biologen gefunden. Obwohl es kaum noch Biologen gibt, die etwas gegen Genfood haben, hinterfragt niemand in Deutschland die öffentliche Meinung.
Die Liste beliebter Klischees, die man traditionell nicht infrage stellt, ist lang: Deutschland ist schon wieder Opfer ausländischer Kräfte (heute liefern TIPP und NSA die notwendigen Beweise, morgen sind es andere); Deutschland ist anderen Ländern kulturell überlegen – der Beweis: jedes Dorf hat ein Sinfonieorchester; in Deutschland hat die Aufklärung gesiegt, weil niemand mehr in die Kirche geht … aber dass der Staat Kirchensteuer erhebt, dass Religion in staatlichen Schulen unterrichtet wird und Kirchenvertreter in den Rundfunkräten sitzen – das ist doch Tradition!
Ein Großteil der deutschen Vorstellung von der Welt ist geprägt von solchen zutiefst fragwürdigen Klischees, die nicht mehr vom Sockel zu stoßen sind. Soziologisch gesehen gibt es natürlich gute Gründe dafür: Konformität nennt man das Bedürfnis, sich den gesellschaftlichen Normen und weit verbreiteten Meinungen anzupassen.
Wer dazu gehören will, lernt schnell, welche Handvoll Phrasen er immer wieder von sich geben muss: Gentrifizierung greift immer mehr um sich! Die EU ist keine Demokratie! Und der Kapitalismus! Der macht uns alle kaputt! Wann kapieren die da oben endlich, dass die Banken und Lobbyisten zu viel Macht haben!
Solche Sprüche haben längst keinen Inhalt mehr. Sie sind wie das geflüsterte Passwort in einem illegalen Klub in Chicago während der Prohibition: “Ernie sent me.” Ist das Passwort richtig, kommt man rein. Über den Inhalt wird niemand ausgefragt: “Ach ja, wie geht’s denn Ernie so? Habe lange nichts mehr von ihm gehört.”
Die eigene Position zu überprüfen, ist nicht gefragt und auch nicht notwendig. Um als politisch engagiert, als Intellektueller oder gar als ein um das Wohl der Menschheit besonders besorgter Mensch zu gelten, muss man bloß die richtigen Bausteine nach Anleitung richtig aufeinanderstapeln. Deutschland ist das Legoland des intellektuell-politischen Dialogs.
Wer mehr Zeit damit verbringt, seine Meinung zu äußern als Fragen zu stellen, ist kein kritischer Denker. Wer immer noch die Sprüche seiner Partei, seiner intellektuellen Vorbilder, der coolen Revoluzzer seiner Schulzeit oder gar seiner Großeltern klopft, ist kein kritischer Denker. Wer nur selten im Leben “na ja, die andere Seite hat auch gute Argumente” sagt oder gar “kann sein, dass ich da falsch lag”, ist kein kritischer Denker.
Ein weiser Mann, dessen Namen ich nicht mehr weiß – oder vielleicht war es doch nur irgend so ein ausländischer Fußballer – sagte mal: “Ich weiß, dass ich nichts weiß.” Das war ein kritischer Denker. Das sind aber Worte, die ich in Deutschland nie höre.
Eric T. Hansen ist Amerikaner, Journalist, Buchautor und Satiriker (Planet Germany. Eine Expedition in die Heimat des Hawaii-Toasts), lebt sein halbes Leben in Deutschland, heute in Berlin und versucht vieles richtig zu stellen.
Siehe auch:
- Geringe Risikobereitschaft und Innovation in Deutschland und Europa
- Transatlantisches Freihandelsabkommen: “Bye bye, american way of life”
- Deutschland schaufelt sich das eigene Grab
- Rechtspopulismus und Nationalismus in Deutschland und Europa
Dies ist zwar nicht Sokrates, aber vielleicht eine guter Ansatz zum Nachdenken….
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